Elektroschockbehandlung

 

An die
Herren Direktoren
der psychiatrischen Landes-,
Bezirks- und Nervenkrankenhäuser
und Universitätskliniken

München, 14. 12. 1978

 

Sehr geehrte Herren Direktoren,

 

nachdem wir uns schon im Sommer und Herbst 1976 mit zwei Schreiben an Sie gewandt haben, um Ihren Standpunkt zu Fragen der "Elektroschockbehandlung" zu erfahren, bitten wir Sie dazu noch einmal um Ihre fachkundige Auskunft.

 

Zuerst möchten wir Ihnen die Gründe darlegen, die uns veranlassen, in dieser Frage nach über zwei Jahren erneut an Sie heranzutreten:

  1. Aus den zahlreichen Antwortschreiben, die wir damals von Klinikdirektoren erhielten, ging deutlich hervor, dass die Anwendung des Elektroschocks in psychiatrischen Fachkreisen äußerst umstritten ist. Eine ganze Reihe von Klinikdirektoren führte dazu aus, auf die Schockbehandlung bereits völlig zu verzichten. "Mich wird auch niemand dazu bringen, diese anachronistische Therapie wieder einzuführen" oder "wir ließen unser Schockgerät vor Jahren verschrotten" hieß es in Antworten. Die Mehrzahl der Klinikdirektoren, etwa 7O% sprach sich jedoch für die Schockmethode aus, nannte sie "unentbehrlich" bei bestimmten Indikationen, wobei aber in den allerwenigsten Antworten klar zum Ausdruck kam, in welchem Umfang die Schockmethode zum Einsatz gelangt, sodass ihr wirklicher Stellenwert nur schwer auszumachen ist.
     
  2. Bei den befürwortenden Stellungnahmen fiel uns eine behutsame Namensmodifikation auf. So war beispielsweise von "Heilkrampfbehandlung" oder "Durchflutungsbehandlung" die Rede, Ausdrücke also, die Patienten und Angehörige über den wahren Charakter dieser Methode hinwegtäuschen können.
      
  3. In den letzten beiden Jahren haben wir die "wissenschaftliche" Diskussion zu Fragen des Elektroschocks genauestens verfolgt. Wir hatten auf neue überzeugende Argumente für den elektrischen Schock gehofft - einer Methode, die ihre Geburt Wahrnehmungen von Prof. Ugo Cerletti im Schlachthof von Rom verdankt - aber wir wurden bitter enttäuscht. Vorgebracht wurden in erster Linie Rechtfertigungen und Behauptungen, die sich einer "wissenschaftlichen" Überprüfung entziehen und mehr einen "Schockglauben" der Befürworter offenbaren. In diesem Zusammenhang möchten wir Sie an einen Vorfall erinnern, über den 1974 berichtet wurde: Zweieinhalb Jahre hatte man in einer psychiatrischen Klinik im Nordwesten Englands Patienten mit Elektroschocks behandelt, bis Techniker feststellten, die Maschine funktionierte überhaupt nicht. Das erstaunliche Ergebnis: Die Nicht-Schock-Kur hatte die gleichen Effekte auf die damit behandelten Kranken, wie die Therapie mit echten Stromstößen bei anderen. Manchmal scheint nur der Glaube an die Kur zu wirken und nicht die Behandlung selbst, hieß es dazu.
     
  4. Hinzu kommt, dass sich bis heute mit Elektroschock behandelte Patienten oder Angehörige solcher Patienten bei uns über die negativen Folgen des Eingriffs beklagen. Gegenstand dieser Beschwerden sind hauptsächlich eine ungenügende Aufklärung über die möglichen schädlichen Nebenwirkungen vor der Behandlung und Schockfolgen, hierbei besonders schwere Gedächtnisstörungen und Persönlichkeitsveränderungen. Wir wollen Ihnen dies an zwei Aussagen von Patienten verdeutlichen:

    Ein Diplom-Ingenieur:
    "Ich befand mich 1969 wegen Depressionen in einer psychiatrischen Klinik und wurde anfangs mit hohen Dosen Psychopharmaka behandelt, aber dadurch veränderte sich mein Zustand nicht. Ich wollte damals möglichst bald die Klinik verlassen, da meine Frau ein Kind erwartete. Der Psychiater erklärte mir dann, dass Elektroschocks am schnellsten helfen würden - dabei könnte lediglich eine vorübergehende Gedächtnisstörung auftreten - und so willigte ich ein. Ich bekam dann 9 Elektroschocks, nach den ersten zwei fühlte ich mich momentan etwas besser, aber sobald ich einen anderen Patienten sah, waren die Depressionen wieder da; die nächsten 7 Schocks waren völlig wirkungslos. Unter den Depressionen leide ich heute noch. Nach den Schockbehandlungen stellten sich bei mir zunehmend Gedächtnisstörungen ein, weshalb ich bald meinen guten Arbeitsplatz verlor. Auch Erinnerungslücken traten auf und mein Gefühlsleben ist erheblich gestört - meine Frau hat sehr darunter zu. leiden. Meiner Frau habe ich bis heute nichts von den Elektroschocks erzählt. Ein Rechtsanwalt riet mir, den Psychiater, einen bekannten Münchner Professor, auf Schadenersatz und Schmerzensgeld zu verklagen, aber es fand sich kein Nervenarzt, der bereit gewesen wäre, in dieser Sache ein Gutachten zu erstellen."

    Eine Akademikerin:
    "Ich litt 1976 an einer Neurose - wie ich heute weiß -und wurde mit einer Reihe Elektroschocks behandelt. Bereits nach dem ersten Schock konnte ich mich mit keinem einzigen Gedanken an einen bestimmten Text erinnern, den ich jeden Abend zu überdenken pflegte. Monate später ist er mir nach und nach wieder eingefallen. Meine Bekannten sagen mir, ich hätte in jener Schockzeit Ereignisse und Gesprächsinhalte von einem Tag auf den anderen vergessen. Ebenso erklären sie mir, sie hätten mich - entgegen meiner natürlichen Veranlagung - oft desinteressiert und antriebsarm erlebt. Die Elektroschocks hatten bei mir gar keine positive Wirkung."

    Aber auch Selbstmordfälle und -versuche wurden uns nach erfolgter Elektroschockbehandlung bekannt. Von Interesse in diesem Zusammenhang ist vielleicht eine Ausführung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in den Schlussbemerkungen einer "Empfehlung über die Lage der Geisteskranken" vom 8. Oktober 1977: "Viele von ihnen (Anm.: die Patienten) neigen dazu, die Hoffnung aufzugeben, jemals wieder völlig gesund zu werden, oder sie möchten nicht mehr dieselben Leiden auf sich nehmen, die sie in psychiatrischen Anstalten erlebt haben und begehen dann Selbstmord."
     
  5. Von Zeit zu Zeit tauchte auch die Frage auf, ob Elektroschocks in psychiatrischen Kliniken zu Disziplinierungszwecken missbraucht wurden. So berichtete am 26. Juni 1973 die "Hamburger Morgenpost" über einen derartigen Fall in der englischen Klinik Moorhaven. Laut dem Zeitungsbericht bat eine dort untergebrachte Patientin ihren Ehemann: "Hol mich hier raus, ich halte das nicht länger aus. Wenn ich etwas mache, was den Ärzten und Schwestern nicht gefällt, dann werde ich mit Elektroschocks behandelt." In Berichten über den Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion wurden ähnliche Vorwürfe erhoben.

 

Uns liegen nun Krankengeschichten von Patienten vor, die sich in einer Nervenklinik in der Bundesrepublik befanden und dort aus recht eigenartigen Gründen mit Elektroschocks bzw. Elektrokrampf, wie es in den Behandlungslisten hieß, "behandelt" wurden. Wir zitieren:

 

Patientin 2:

geb. 1938: "Sehr erregt und laut. 1 EK; erregt, beschädigt Wohnsaaltür und Nachtlicht, 1 EK; gereizt, laut und gewalttätig, 1 EK; sehr frech, rauft mit Schwestern, 1 EK; aggressiv, auffallend, 1 EK; schrie und stieß mit den Beinen, 1 EK; gereizt, streitsüchtig, sehr auffallend, 1 EK; die Tage vorher schon sehr gereizt, laut und ausfallend, daher 1 EK; tags zuvor laut und ausfallend, trat Frl. S mit dem Fuß in den Leib, 1 EK."

 

Patientin 2:

geb. 1949: "Da neuerlich sehr laut und aggressiv weitere EKT; Fluchtversuch, wird wieder erregt und gewalttätig, EKT; Trotz der Psychopharmaka wieder erregt-aggressiv, nochmalige EKT; keine Besserung, wieder aggressiv geworden, nochmaliger EK."

 

Patientin 3:

geb. 1953: "Wieder sehr frech, musste ins Bett gebracht werden, daher 1 EK-Behandlung; in den letzten Tagen wieder sehr frech, laut, ordinär, hetzt andere Patienten zu Gewalttätigkeiten auf, daher EK; Fluchtversuch mit Frl. H. zusammen, 1 EK."

 

Wir bitten Sie nun um die Beantwortung folgender Fragen:

  1. Findet in Ihrem Hause die Elektroschockbehandlung noch Anwendung und wenn ja in welchem Umfang jährlich und bei welchen Indikationen?
  2. Werden die Patienten vor einer Elektroschockbehandlung über mögliche Nebenwirkungen hinreichend aufgeklärt, wird dabei der Begriff "Elektroschock" verwendet oder Ausdrücke, wie "Heilkrampfbehandlung" oder "Durchflutungsbehandlung" und wird dazu das Einverständnis des Patienten bzw. der Angehörigen schriftlich eingeholt?
  3. Werden in Ihrem Hause Elektroschockbehandlungen ambulant oder an Kindern oder Jugendlichen vorgenommen?
  4. Wie erklären Sie sich, dass in einer Reihe von psychiatrischen Krankenhäusern auf den Einsatz des Elektroschocks schon seit Langem verzichtet wird, während andere Klinikdirektoren ihn noch immer für "unentbehrlich" halten?
  5. Wie beurteilen Sie die Fachdiskussion in den letzten beiden Jahren. Sind Sie der Auffassung, dass sich der Elektroschock, auf dem Rückzug befindet bzw. völlig aufgegeben wird oder dass der Elektroschock eine Renaissance erlebt? Hat sich Ihre Einstellung zum E-Schock in den letzten zwei Jahren verändert?
  6. Sind Ihnen Beschwerden von mit Elektroschock behandelten Patienten oder deren Angehörigen bekannt geworden, die sich über schädliche Folgen des E-Schocks beklagten?
  7. Wie beurteilen Sie die in Punkt 5 auf Seite 3 und 4 zitierten Auszüge aus den Krankengeschichten der drei Patientinnen. Sehen Sie in diesem Vorgehen einen Missbrauch des Elektroschocks zu Disziplinierungszwecken oder nicht?
    Wir bedanken uns bei Ihnen im Voraus für Ihre Mühe und sehen Ihrer geschätzten Antwort mit Interesse entgegen.

 


Hochachtungsvoll

 

Hermann Poppinga
(1. Vorsitzender)

 

Edith von Thüngen
(2. Vorsitzende)

 

 

 

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Die KVPM wurde 1972 in München von Mitgliedern der Scientology Kirche gegründet und gehört zum weltweit größten Netzwerk zur Aufdeckung von Missbräuchen in der Psychiatrie.