Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen schlagen Alarm gegen einen Entwurf des Europarats!

Ein Entwurf des Europarats würde die Jahre lange Arbeit der UN gegen Zwangsmaßnahmen der Psychiatrie zunichte machen. Tagung schon Anfang Juni

3. Juni 2021

Sehr geehrte ...

das Komitee für Bioethik des Europarates wird sich Anfang Juni treffen, um über einen Dokumententwurf abzustimmen, der es allen 47 Vertragsstaaten des Europarates weiterhin erlauben würde, Zwangsmaßnahmen, einschließlich Zwangsbehandlung und unfreiwillige Unterbringung in psychiatrischen Einrichtungen, gegen Menschen mit psychischen Erkrankungen anzuwenden.

Mit diesem Schritt des Europarats wären Jahre lange Bemühungen und Errungenschaften der Vereinten Nationen für eine menschlichere Psychiatrie ohne Gewalt zunichte gemacht.

Am Freitag, den 28. Mai 2021, veröffentlichten die Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen hierzu eine Warnung, weil dieser Vorstoß des Europarates einen Ansatz für die Politik und Praxis im Bereich der psychischen Gesundheit aufrecht erhält, der auf Zwang basiert, was mit den heutigen Menschenrechtsprinzipien und -standards unvereinbar ist: https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=27126&LangID=E

Experten der Vereinten Nationen rufen zum Einspruch gegen den Vorschlag des Europarates auf. Zitat: "Wir rufen alle staatlichen Delegationen auf, bei der kommenden Sitzung Einspruch gegen den Entwurf des Zusatzprotokolls zu erheben, und wir fordern den Europarat auf, die Legitimierung von Zwangseinweisungen und die Anwendung von Zwang gegen Menschen mit Behinderungen, einschließlich älterer Menschen mit Behinderungen, zu beenden."

Der aktuelle Vorstoß des Komitees für Bioethik des Europarates für weiteren Zwang in der Psychiatrie ist umso unverständlicher, als bereits im Juni 2019 die Parlamentarische Versammlung des Europarates in Straßburg zum Thema: "Ende des Zwangs in der Psychiatrie: die Notwendigkeit eines menschenrechtsbasierten Ansatzes" tagte. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, begründete damals diese Forderung in ihrer Rede unter dem Titel: "Es ist an der Zeit, den Zwang in der Psychiatrie zu beenden" ausführlich (Auszüge ihrer Rede unter diesem Schreiben).

Wir bitten Sie daher, sich an die nachfolgenden fünf Vertreter Deutschlands im Komitee für Bioethik (DH-BIO) des Europarates zu wenden und diese dazu aufzurufen, gegen den Entwurf des Zusatzprotokolls zu stimmen:

Dr. Nils GODENDORFF
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
Unit III B 6, Division for Insurance Law; IOPC; Genetic Diagnotics
godendorff-nils@bmj.bund.de 

Dr. Ingo HÄRTEL
Bundesministerium für Gesundheit, Refarat 317
Friedrichstraße 108, 10117 Berlin
Tel: 030-18441-3134, Fax: 030-18441-10-3134
Ingo.haertel@bmg.bund.de 

Prof. Dr. Elmar DOPPELFELD
Ehrenvorsitzender des Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen
in der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Charlottenstraße 42, 10117 Berlin; Tel: 030-403-639-650
geschaeftsstelle@akek.de; www.akek.de

Prof. Dr. Dr. Thomas HEINEMANN
Lehrstuhl Ethik, Theorie und Geschichte der Medizin
Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar (PTHV)
Pallottistr. 3, 56179 Vallendar; Tel: 0261-6402-510
t.heinemann@pthv.de 

Dr. Stefan OSSEGE
Bundesministerium für Bildung und Forschung
Kapelle-Ufer 1, 11055 Berlin
stefan.ossege@bmbf.bund.de 

Wichtige Informationen

Ein Ausschuss des Europarates wird Anfang Juni zusammentreten, um über einen Entwurf abzustimmen, der es allen 47 Vertragsstaaten des Europarates weiterhin erlauben würde, Zwangsmaßnahmen, einschließlich Zwangsbehandlung und unfreiwillige Unterbringung in psychiatrischen Einrichtungen, gegen Menschen mit psychischen Erkrankungen anzuwenden. Dies wird zu einem Problem für die zukünftige Entwicklung eines jeden Landes in Europa.

Der Europarat (französisch: Conseil de l'Europe) ist eine internationale Organisation, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, um Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa zu wahren. Sie wurde 1949 gegründet und hat 47 Mitgliedsstaaten.

Die Organisation unterscheidet sich von der aus 27 Staaten bestehenden Europäischen Union (EU), obwohl sie manchmal mit ihr verwechselt wird, zum Teil weil die EU die ursprüngliche europäische Flagge übernommen hat, die 1955 vom Europarat geschaffen wurde.

Der Europarat kann keine verbindlichen Gesetze erlassen, aber er hat die Macht, ausgewählte internationale Vereinbarungen, die von europäischen Staaten zu verschiedenen Themen getroffen wurden, durchzusetzen. Das bekannteste Organ des Europarats ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der die Europäische Menschenrechtskonvention durchsetzt.

Die beiden satzungsgemäßen Organe des Europarates sind das Ministerkomitee, das sich aus den Außenministern der einzelnen Mitgliedsstaaten zusammensetzt (in der Regel vertreten durch einen Stellvertreter oder "Ständigen Vertreter", der ein Botschafter beim Europarat ist), und die Parlamentarische Versammlung, die sich aus Mitgliedern der nationalen Parlamente der einzelnen Mitgliedsstaaten zusammensetzt.

Unter dem Europarat ist die Konvention über Menschenrechte und Biomedizin, besser bekannt als die Oviedo-Konvention, das einzige internationale rechtsverbindliche Instrument zum Schutz der Menschenrechte im biomedizinischen Bereich. Sie legt fest, dass die Menschenrechte im Bereich der Biomedizin Vorrang vor anderen Erwägungen haben müssen. Sie legt eine Reihe von Prinzipien und Verboten in Bezug auf Bioethik, medizinische Forschung, Einwilligung, Recht auf Privatleben und Information, Organtransplantation, öffentliche Debatte usw. fest.

Im Jahr 2014 begann das Komitee für Bioethik unter dem Ministerkomitee (das oberhalb der Ebene der Parlamentarischen Versammlung tätig ist) des Europarats mit der Arbeit an einem "Entwurf eines Zusatzprotokolls über den Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde von Personen mit psychischen Störungen im Hinblick auf unfreiwillige Unterbringung und Zwangsbehandlung".

In Anbetracht der existierenden Zustände in den Psychiatrien der Staaten Europas und der grundlegenden Prinzipien der Menschenrechte, auf denen der Europarat aufbaut, sind verbesserte Statuten zum Schutz der Menschenrechte in der Psychiatrie dringend geboten.

Das Zusatzprotokoll des Europarats hält dagegen in Bezug die psychische Gesundheitspolitik und Praxis an einem Ansatz fest, der auf Zwang beruht, was mit den heutigen Menschenrechtsprinzipien und -standards unvereinbar ist.

Während die aktuellen Standards für psychische Gesundheit und Psychiatrie in den europäischen Staaten die Anwendung von unfreiwilliger Einweisung und Zwangsmaßnahmen zulassen, handelt es sich dabei grundsätzlich um Menschenrechtsverletzungen.

Die Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen haben dies erkannt, in den letzten Jahren einen Fokus auf dieses Thema gelegt, zunehmend ihre Stimme erhoben und Druck ausgeübt, um solche Praktiken weltweit umzukehren mit Verweis auf bestehende verabschiedete UN-Menschenrechtskonventionen, insbesondere die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen.

Infolge dessen und der Arbeit von Menschenrechtsgruppen wie der Citizens Commission on Human Rights (CCHR) und anderer Gruppen, wird die Problematik der Anwendung von Zwang in der Psychiatrie zunehmend erkannt und in vielen Ländern wird gegenwärtig versucht, die Anwendung von Zwang zu verringern

Die Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen haben am Freitag, den 28. Mai 2021, eine gemeinsame Erklärung gegen den Entwurf des Zusatzprotokolls zur Oviedo-Konvention abgegeben. Sie argumentierten:

"Zwang im Bereich der psychischen Gesundheit fügt Menschen mit Defiziten Schaden zu. Wir sollten nicht rückwärts gehen und diesen veralteten Ansatz zulassen. Menschen mit psychosozialen Behinderungen haben das Recht, in der Gemeinschaft zu leben und medizinische Behandlung abzulehnen."

Und weiter: "Wir rufen alle staatlichen Delegationen auf, bei der kommenden Sitzung Einspruch gegen den Entwurf des Zusatzprotokolls zu erheben, und wir fordern den Europarat auf, die Legitimierung von Zwangseinweisungen und die Anwendung von Zwang gegen Menschen mit Behinderungen, einschließlich älterer Menschen mit Behinderungen, zu beenden."

Der umstrittene Vertragsentwurf hat innerhalb Europas und in der internationalen Gemeinschaft Widerstand hervorgerufen. Auch innerhalb des Europarates haben sich Stimmen, wie die Parlamentarische Versammlung des Europarates und der Menschenrechtskommissar des Europarates, gegen den Protokollentwurf ausgesprochen.

Die UN-Experten fügten hinzu: "Weltweit gibt es Bestrebungen, die psychische Gesundheitspolitik zu reformieren. Es ist daher für uns überraschend, dass der Europarat, eine wichtige regionale Menschenrechtsorganisation, die Verabschiedung eines Vertrages plant, der ein Rückschlag wäre, der alle positiven Entwicklungen in Europa rückgängig machen und eine abschreckende Wirkung in anderen Teilen der Welt verbreiten würde."

"Der Europarat hat jetzt die einmalige Gelegenheit, von altmodischen Zwangsansätzen zur psychischen Gesundheit wegzukommen, hin zu konkreten Schritten zur Förderung von unterstützenden psychischen Gesundheitsdiensten in der Gemeinschaft und der Verwirklichung der Menschenrechte für alle ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung", betonten sie.

Es wird darauf hingewiesen, dass in den letzten Jahren ein endgültiger Entwurf des Zusatzprotokolls zur Oviedo-Konvention verabschiedet wurde. Im Juni 2021 wird der Bioethik-Ausschuss – bestehend aus Experten aus jedem Mitgliedsstaat – über diesen Entwurf abstimmen und zwar trotz des kontinuierlichen Widerstands von hauptsächlich Gruppen von Psychiatrie-Überlebenden und einigen Gruppen für psychische Gesundheit. Die endgültige Annahme wird Ende 2021 oder Anfang 2022 erfolgen.

Seit Beginn der Arbeiten an diesem Zusatzprotokoll haben sich Mental Health Europe und andere Organisationen gegen dessen Entwicklung ausgesprochen. Dazu gehören das European Disability Forum (EDF), das European Network of (Ex-) Users and Survivors of Psychiatry (ENUSP), Human Rights Watch, die European Association of Service Providers for Persons with Disabilities (EASPD), Inclusion Europe und Autism Europe. In den letzten Jahren haben sich ihnen viele andere Interessenvertreter angeschlossen, wie der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der Sonderberichterstatter für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit, die Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen, die Parlamentarische Versammlung des Europarates und der Menschenrechtskommissar des Europarates. Sie und die Citizens Commission on Human Rights (CCHR) lehnen den Entwurf des Zusatzprotokolls ab, weil er gegen die internationalen Menschenrechte verstößt und die Gefahr birgt, dass Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie zunehmen.

Im Besonderen:
Unfreiwillige Behandlung und Unterbringung in der Psychiatrie sind nach der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) verboten. Sie verstoßen u.a. gegen die Rechte auf Nichtdiskriminierung, Rechtsfähigkeit, Freiheit und Sicherheit sowie Gesundheit. Die CRPD ist von 46 der 47 Mitgliedsstaaten des Europarates ratifiziert worden.

Durch die Verabschiedung entsteht ein rechtlicher Konflikt zwischen den Verpflichtungen der Staaten auf regionaler Ebene (Europarat) und auf internationaler Ebene (CRPD). In europäischen Staaten, die die CRPD ratifiziert haben, werden zwei unterschiedliche Standards gelten.

Es besteht die Gefahr, dass sich die Institutionalisierung von Menschen mit Behinderungen verfestigt. Gleichzeitig wird diese Praxis von der CRPD, dem Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und dem Sonderberichterstatter für die Rechte von Menschen mit Behinderungen verurteilt. Staaten, die ähnliche Gesetze zu nicht freiwilliger Behandlung und Unterbringung verabschiedet haben, wie sie im Entwurf des Zusatzprotokolls verankert sind, haben eine Zunahme von Zwang in der Psychiatrie festgestellt.

Dies widerspricht dem Paradigmenwechsel im Umgang mit der Psychiatrie und dem wachsenden Konsens gegen Zwang, der sich innerhalb der Vereinten Nationen und zunehmend auch bei Staaten und in der Gesellschaft abzeichnet.

Bisherige Bemühungen für eine Psychiatrie ohne Zwang in Deutschland

Der deutsche Psychiater Dr. Martin Zinkler, Leiter der Klinik für Psychiatrie Heidenheim (ab Juni 2021 Chefarzt in der Psychiatrie Bremen-Ost), fordert seit Jahren öffentlich eine Psychiatrie ohne Zwang und praktiziert diese selbst in seiner Klinik erfolgreich. Am 27. April 2017 erläuterte er seine Erfahrungen als Sachverständiger in der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses im Deutschen Bundestag zum Thema "Medizinische Zwangsbehandlungen". Auch im Beitrag "Ohne Zwang - ein Konzept für eine ausschließlich unterstützende Psychiatrie" in Recht & Psychiatrie 4/2019 beschrieb Dr. Zinkler sein Konzept, die Umsetzung und Resultate im Detail.


Am 6. Juni 2017 forderte der unabhängige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit, Dainius Puras, weltweit einen Paradigmenwechsel im psychiatrischen System. Er hält die UN-Mitgliedsstaaten und Psychiater dazu an, mit Mut und Entschlossenheit ein krisengebeuteltes System zu reformieren, das auf veralteten Grundfesten steht. „Wir brauchen nichts weniger als eine Revolution im Bereich der geistigen Gesundheit, um Jahrzehnte voller Versäumnisse, Missbrauch und Gewalt zu beenden“, sagte Herr Puras, nachdem er dem UN-Menschenrechtsrat in Genf seinen Bericht präsentierte:
„In den Ländern, in denen psychiatrische Systeme existieren, sind sie vom restlichen Gesundheitssystem abgetrennt und basieren auf veralteten Praktiken, welche die Menschenrechte verletzen. Ich rufe die Staaten dazu auf, sich von herkömmlichen Praktiken und Denken zu lösen und einen längst überfälligen Grundsatzwechsel mit Blick auf die Menschenrechte zu ermöglichen. Der Status quo ist schlicht unakzeptabel.“

„Das psychiatrische System mit seinen Richtlinien und Diensten befindet sich in einer Krise – keine Krise des chemischen Ungleichgewichts, sondern ein Ungleichgewicht der Kräfte. Wir brauchen mutiges politisches Engagement, dringende Richtlinien und sofortige Abhilfen.“

Quelle:
https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=21689&LangID=E


Am 26. Juni 2019 tagte die Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg zum Thema: "Ende des Zwangs in der Psychiatrie: die Notwendigkeit eines menschenrechtsbasierten Ansatzes".

Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, gab in ihrer Rede unter dem Titel: "Es ist an der Zeit, den Zwang in der Psychiatrie zu beendenhierzu folgende Erklärung ab: (unautorisierte Übersetzung aus dem Englischen, fett hinzugefügt)

"Was Zwang in der psychischen Gesundheit letztlich tut, ist, diejenigen zum Schweigen zu bringen und zu isolieren, die bereits an psychischen Erkrankungen leiden. Entscheidend ist, dass es unsere Fähigkeit verringert, zuzuhören und auf ihre Bedürfnisse zu reagieren.

Historisch gesehen waren Ablehnung und Isolation unsere Standardreaktion auf Menschen mit psychosozialen Behinderungen. Diese tief verwurzelte Angst ist in uns immer noch sehr stark und schürt das Vorurteil, dass sie automatisch eine Gefahr für sich selbst und für die Gesellschaft sind, entgegen aller verfügbaren gegenteiligen statistischen Beweise.

Die Berichterstatterin weist darauf hin, dass es nicht genügend wissenschaftliche Beweise gibt, um den Nutzen von Zwang bei der Verringerung des Schadens zu belegen, während es zahlreiche Beweise für den – und manchmal irreparablen – Schaden gibt, den unfreiwillige Unterbringung und Behandlung bei den Patienten verursachen können.

Es gibt auch Hinweise darauf, dass der Rückgriff auf Zwang oft mehr mit Gewohnheit, einer Kultur des Wegsperrens und dem Fehlen von Alternativen als mit therapeutischer Notwendigkeit zu tun hat. ...

Die Berichterstatterin selbst verweist auf die negativen Auswirkungen unfreiwilliger Maßnahmen auch auf die Dienstleistungserbringer.

Es gibt Dienstleister für Menschen mit Behinderungen, die die Zwangsausübung stoppen wollen, aber keine Alternativen haben oder nicht kennen.
Ich stimme mit der Berichterstatterin und dem Ausschuss für soziale Angelegenheiten, Gesundheit und nachhaltige Entwicklung darin überein, dass ein System der psychischen Gesundheit, das einen menschenrechtsbasierten Ansatz vollständig integriert, der beste Weg ist, Menschenrechtsverletzungen in Zukunft zu vermeiden. (...)

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) ist eine der größten Errungenschaften der letzten Jahre in Bezug auf die Menschenrechte. Es war das Ergebnis einer unermüdlichen Kampagne von Menschen mit Behinderungen, einschließlich psychosozialer Behinderungen, um sich Gehör zu verschaffen. Was sie sagen, ist vollkommen rational und auf Menschenrechten beruhend: Sie sagen, dass sie gleich behandelt werden wollen und nicht aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert werden wollen. (...)

Es ist unsere Pflicht, unsere Mitgliedstaaten zu ermutigen und zu unterstützen, einen menschenrechtsbasierten Übergang ihrer Systeme der psychischen Gesundheit einzuleiten, um den Zwang zu verringern und zu beenden, was längst überfällig ist. Wir müssen heute beginnen, wir müssen jetzt beginnen."

Quelle:  Rede von Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin,
vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates am 26.06.2019:
https://www.coe.int/en/web/commissioner/-/it-is-time-to-end-coercion-in-mental-health 

 

Am 14. Februar 2020 veröffentlichte der UN-Sonderberichterstatter über Folter, Prof. Nils Melzer, einen neuen Bericht, in dem er in mehreren Punkten auf folterartige Zustände in der Psychiatrie einging.

Nils Melzer ist schweizer Rechtswissenschaftler und Professor für internationales Recht an der Universität von Glasgow. Seit 2016 ist Prof. Melzer UN-Sonderbericherstatter über Folter. In seinem jüngsten Bericht listet er eine Menge beklagenswerter Punkte auf, hier seien nur vier daraus genannt (aus dem Englischen übersetzt, fett hinzugefügt):

33.  Frühere Sonderberichterstatter haben erklärt, dass „die Beurteilung des Ausmaßes an Leiden oder Schmerzen, die relativ zu den Umständen des Falles sind, erfordert dass die Umstände des Falles berücksichtigt werden, einschließlich (…) des Erwerbs oder der Verschlechterung der Beeinträchtigung als Ergebnis der Behandlung oder der Haftbedingungen des Opfers“, und dass „medizinische Behandlungen aufdringlicher und irreversibler Art“, wenn sie keinen therapeutischen Zweck haben und ohne freie und informierte Zustimmung durchgeführt oder verabreicht werden, Folter oder Misshandlung darstellen können.

37.  Es muss betont werden, dass angeblich wohlwollende Zwecke an sich keine Zwangs- oder Diskriminierungsmaßnahmen rechtfertigen können. Zum Beispiel Praktiken wie unfreiwillige Abtreibung, Sterilisation oder psychiatrische Interventionen, die auf der „medizinischen Notwendigkeit“ des „besten Interesses“ des Patienten beruhen.

40.  In der Praxis entsteht „Machtlosigkeit“ immer dann, wenn jemand unter die direkte physische oder gleichwertige Kontrolle des Täters geraten ist und effektiv die Fähigkeit verloren hat, sich dem zugefügten Schmerz oder Leiden zu widersetzen oder sich ihm zu entziehen. Dies ist typischerweise in Situationen der physischen Haft, wie z.B. bei Festnahme und Inhaftierung, Einweisung in ein Heim, Krankenhausaufenthalt oder Internierung oder jeder anderen Form des Freiheitsentzuges der Fall. In Abwesenheit von physischer Haft kann Machtlosigkeit auch durch den Einsatz von am Körper getragenen Geräten entstehen, die in der Lage sind, per Fernsteuerung elektrische Schläge abzugeben, da sie die „vollständige Unterwerfung des Opfers unabhängig von der physischen Entfernung“ bewirken. Eine Situation tatsächlicher Ohnmacht kann ferner durch „Entzug der Rechtsfähigkeit, wenn einer Person die Ausübung der Entscheidungsfindung entzogen und Anderen übertragen wird“, durch ernsthafte und unmittelbare Bedrohungen oder durch Zwangskontrolle in Kontexten wie häuslicher Gewalt erreicht werden, durch entmündigende Medikamente und, je nach den Umständen, in kollektiven sozialen Kontexten des Mobbings, des Cyber-Mobbings und der staatlich geförderten Verfolgung, die den Opfern jede Möglichkeit nehmen, sich wirksam gegen ihren Missbrauch zu wehren oder ihm zu entgehen.

49.  Eine psychologische Methode, die in praktisch allen Foltersituationen angewandt wird, besteht darin, den Opfern gezielt die Kontrolle über möglichst viele Aspekte ihres Lebens zu entziehen, die völlige Dominanz über sie zu demonstrieren und ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und völligen Abhängigkeit vom Folterer zu vermitteln. In der Praxis wird dies durch ein breites Spektrum von Techniken erreicht, darunter vor allem … (d) unmögliche Entscheidungen auferlegen, die die Opfer zur Teilnahme an ihrer eigenen Folter zwingen. (Nötigung zur "Krankheitseinsicht" und "Behandlungsbedürftigkeit" usw.)

Eine lange Reihe weiterer Punkte aus dem Bericht finden Sie in deutscher Übersetzung unter https://www.zwangspsychiatrie.de/un-sonderberichterstatter/ .

Quelle des englischen Originals:
Human Rights Council, Forty-third session 24 February – 20 March 2020,
Torture and other cruel, inhuman or degrading treatment of punishment:
https://ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/RegularSessions/Session43/Documents/A_HRC_43_49_AUV.docx 

Derartige, mit Folter gleichzusetzende Missbräuche sind im Alltag geschlossener psychiatrischer Stationen, in die Menschen zwangeingewiesen und damit einhergehend oft unter rechtliche Betreuung gestellt (entmündigt) werden, noch heute an der Tagesordnung.


Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat nach seiner 43. Tagung in einer aktuellen Resolution die Wichtigkeit seiner früheren Resolutionen zum Schutz der Menschenrechte in der Psychiatrie betont und drängt die Staaten auf Umsetzung der erarbeiteten Strategie um Zwang, Gewalt, Übermedikation, Missbräuche, Freiheitsberaubung und willkürliche Einweisungen etc. ein Ende zu setzen. Die Resolution wurde am 19. Juni 2020 verabschiedet und ist hier veröffentlicht:
https://undocs.org/A/HRC/RES/43/13

Unter Punkt 6. fordert der Menschenrechtsrat die Staaten nachdrücklich auf, aktive Schritte zu unternehmen um alle Formen der Gewalt, Missbrauch, rechtswidrige oder willkürliche Freiheitsberaubung und Einweisung sowie Übermedikamentierung zu beseitigen.

Unter Punkt 7. wiederholt der UN Ausschuss die Forderung an die Staaten einen Paradigmenwechsel im Bereich der psychischen Gesundheit zu fördern, gegenüber einem Modell, das auf der Dominanz biomedizinischer Interventionen, Zwang, Medikalisierung und Hospitalisierung beruht.

Unter Punkt 8. werden die Staaten aufgefordert, alle Praktiken und Behandlungen aufzugeben, bei denen die Rechte, die Autonomie, der Wille und die Präferenzen aller Personen nicht gleichberechtigt mit anderen respektiert werden und die zu Machtungleichgewichten, Stigmatisierung, Diskriminierung, Schaden und Menschenrechtsverletzungen und -missbrauch in psychiatrischen Einrichtungen führen.

Punkt 9. fordert die Sicherstellung, dass Menschen mit psychischen Gesundheitszuständen oder psychosozialen Behinderungen, einschließlich der Nutzer psychosozialer Dienste, gleichberechtigt mit anderen Zugang zur Justiz haben, unter anderem durch die Bereitstellung von verfahrenstechnischen und altersgerechten Unterkünften.

Punkt 14. ermutigt die Staaten nachdrücklich, Menschen mit psychischen Gesundheitszuständen oder psychosozialen Behinderungen dabei zu unterstützen, sich selbst zu befähigen, ihre Rechte zu kennen und einzufordern, unter anderem durch Förderung der Gesundheits- und Menschenrechtskompetenz, Menschenrechtserziehung und -ausbildung für Gesundheits- und Sozialarbeiter, Polizei, Vollzugsbeamte, Gefängnispersonal und andere einschlägige Berufe unter besonderer Berücksichtigung der Nichtdiskriminierung, der freien und informierten Zustimmung und der Achtung des Willens und der Präferenzen aller, der Vertraulichkeit und der Privatsphäre sowie des Austauschs bewährter Praktiken in dieser Hinsicht.

Quelle: UN Resolution A/HRC/43/13 vom 19. Juni 2020
https://undocs.org/A/HRC/RES/43/13


Der aktuelle Entwurf des Bioethischen Komitees (DH-BIO) des Europarates für die Beibehaltung des status quo von Zwang in der Psychiatrie ist den europäischen Bemühungen der letzten Jahre für eine humane Psychiatrie direkt entgegengesetzt und boykottiert sie. Bitte machen Sie dies den fünf Vertretern Deutschlands klar und fordern Sie nachdrücklich, diesen Entwurf zurückzuziehen.

Mit freundlichen Grüßen

Bernd Trepping

Kommission für Verstöße der Psychiatrie
gegen Menschenrechte Deutschland e.V.
Beichstaße 12
80802 München

Tel.: 089 - 273 03 54
info@kvpm.dewww.kvpm.de

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