Neuroleptika verdoppeln Mortalität von Senioren in Heimen

Untersuchungsausschuss gefordert

 

10. Dezember 2020

Sehr geehrte ...

 

aktuell erhalten rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland eine Demenz-Diagnose. Rund 30 % aller demenzerkrankten männlichen hkk-Versicherten bekommen innerhalb eines Jahres mindestens einmal ein Psychopharmakon verordnet, obwohl diese Mittel bei Alzheimer­demenz die Sterblichkeit wahrscheinlich mehr als verdoppeln.

Seit etwa 20 Jahren wurde zunehmend klar, dass Neuroleptika das Mortalitäts- und Schlaganfallrisiko bei Demenzerkrankten um das etwa 1,7-Fache erhöhten, berichtet der Professor für Arzneimittelversorgungsforschung der Universität Bremen, Prof. Gerd Glaeske, Leiter des Demenzreports 2020. Zu dieser Todesstatistik müssen noch die Fälle von alten Menschen gezählt werden, die aufgrund der Muskel-schwächenden Nebenwirkung von Neuroleptika stürzen und in Folge von Oberschenkelhals- und Knochenbrüchen versterben.

Neuroleptika gehören zu den schwersten Psychopharmaka der Psychiatrie, die bei Schizophrenie und Psychosen angewendet werden.

Prof. Gerd Glaeske: „Es gibt keinen Grund, Demenzerkrankte mit konventionellen Neuroleptika zu behandeln, da nicht belegt ist, dass diese Medikamente Verhaltensstörungen bei den Betroffenen positiv beeinflussen.“ Darüber hinaus verdichten sich seit Jahren die Hinweise, dass Neuroleptika bei Demenzerkrankten schwerwiegende unerwünschte Folgen, wie etwa Herzinfarkt, Schlaganfall sowie Lungenentzündung, haben können und mit einer erhöhten Sterblichkeit zu rechnen ist. Dabei haben die Zulassungsbehörden und auch Pharmakonzerne die Ärzt*innen schon vor mehr als zehn Jahren auf das erhöhte Sterberisiko hingewiesen. Die Analysen zeigen, dass der prozentuale Anteil der betroffenen hkk-Versicherten mit Neuroleptika-Verordnungen über die Jahre trotzdem sogar angestiegen ist. Unterschiedliche Psychopharmaka und Schlafmittel, vor allem Neuroleptika und Benzodiazepine, werden in der Summe deutlich häufiger verordnet als Antidementiva. Diese sollten jedoch bevorzugt eingesetzt werden, um das Fortschreiten der Demenz möglichst zu verlangsamen.

Untersuchungsausschuss auf Bundes- und Landesebene gefordert:
Eine bundesweite Untersuchung ist dringend geboten, um die Verschreibungspraxis von Psychopharmaka bei Älteren zu erfassen.
Bei jeder Anordnung oder Verlängerung einer Betreuung sollten die Gerichte über sedierende Medikamente informiert werden müssen.
Mindestens einmal im Jahr sollte jeder Betreuer eine Aufstellung aller Medikamente einreichen. Rechtspfleger sollten die Listen prüfen und bei Verdacht diese einem Richter vorlegen. Dieser kann einen Experten mit der Prüfung beauftragen sowie gegen den Betreuer einschreiten.

Begründung:
Als Ursache für die häufige Anwendung von Neuroleptika über lange Zeiten nennen Forscher unter anderem emotionales Stressempfinden bei den Betreuungspersonen (überwiegend bei den Pflegenden), das von Hilflosigkeit, Überforderung, Ärger, Unzufriedenheit und körperlicher Bedrohung geprägt ist.
Aus der täglichen Praxis unserer Arbeit wissen wir aber auch, dass es immer wieder Pflegekräfte gibt, die weder im Stress, hilflos oder überfordert sind, noch sich von ihren betreuten Patienten bedroht fühlen, sondern aus unethischen Beweggründen wie z.B. aus Bequemlichkeit ihre pflegebedürftigen Schutzbefohlenen chemisch „ruhig stellen“.

"Aktivierende Pflege statt chemischer Ruhigstellung"

Glaeske fordert deshalb, dass Verhaltensstörungen bei Demenz vorrangig durch eine Optimierung der Pflegesituation, ein gezieltes Training von Alltagsfertigkeiten oder durch milieutherapeutische Maßnahmen wie Ergotherapie behandelt werden. „Das Wichtigste ist, für die Erkrankten so lange wie möglich ihre Würde sowie ihre Alltagsfähigkeiten aufrechtzuerhalten und ihnen Erinnerungen aus ihrer früheren Lebenszeit zu bewahren. Die immer noch weit verbreitete Verordnung von ruhigstellenden Mitteln bei Menschen mit Demenz ist langfristig keine akzeptable Strategie“, sagt der Bremer Arzneimittelexperte. „Insgesamt sollten zudem die sich mehrenden Hinweise auf Präventionsmöglichkeiten zur Verringerung der Alzheimer­demenz berücksichtigt werden – Bewegung, Ernährung, Kommunikation und Beschäftigungsmöglichkeiten gehören dazu.“

Quelle: Pressemitteilung der hkk Krankenkasse Bremen vom 19.11.2020:
https://www.hkk.de/presse/pressemitteilungen/2020-11-19-demenzreport#bremerarzneimittelexperteprofgerdglaeskekritisiertfehlversorgungmitneuroleptika 

Download des Demenzreports 2020 der hkk Krankenkasse Bremen unter:
https://www.hkk.de/presse/-/media/files/website/infomaterial/gesundheitsreport/2020_hkk_demenzreport-2020_web.ashx

Unser Verein macht seit Jahrzehnten regelmäßig auf diese Missstände in der Altenpflege aufmerksam, die Betroffene oft als „Folter“ erleben. In Fachkreisen ist die Problematik seit vielen Jahren bekannt und wiederholt auch öffentlich kritisiert worden. - Bisher ohne Erfolg.

So stellte Petra Thürmann, Pharmakologin und Mitglied im Sachverständigenrat des Bundesgesundheitsministeriums, 2017 in einer Studie der AOK fest: "Der breite und dauerhafte Neuroleptika-Einsatz bei Pflegeheimbewohnern mit Demenz verstößt gegen die Leitlinien!"

Viele der rund 800.000 Menschen, die in Deutschland in Pflegeheimen leben, bekommen Psychopharmaka. Besonders betroffen sind die rund 500.000 Demenzkranken, wie die AOK in ihrem Pflegereport 2017 berichtete:

  • Rund 40 Prozent der Bewohner mit Demenz erhalten dauerhaft mindestens ein Neuroleptikum.
  • Bei den nicht dementen Heimbewohnern nehmen rund 20 Prozent ein Neuroleptikum.
  • Außerdem erhalten gut 30 Prozent aller Heimbewohner ein Antidepressivum.

Petra Thürmann hatte die Studie für den Pflegereport erstellt. Sie verwies darauf, dass Neuroleptika als Medikamente zur Behandlung von krankhaften Wahnvorstellungen, sogenannten Psychosen, entwickelt wurden. Nur ganz wenige Wirkstoffe seien zur Behandlung von Wahnvorstellungen bei Demenz zugelassen. Als unerwünschte Nebenwirkungen könnten Stürze, Schlaganfälle oder Thrombosen auftreten.

Andere Patientenschützer kritisieren ebenfalls den breiten Einsatz von Psychopharmaka in Pflegeheimen. "Für die meisten Heimbewohner ist das äußerst schädlich", sagt der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch: "Statt ruhigstellender Mittel brauchen wir Ergotherapie, körperliche Aktivität und individuelle Beschäftigung."

Fixierungen lehnten die meisten Pflegekräfte heute zwar ab, so Brysch. Nun übernähmen zunehmend Psychopharmaka die Rolle, den Patienten ruhig zu halten. Doch hätten Ärzte und Mitarbeiter der Heime deswegen kein Schuldbewusstsein. Hierzu stellt Brysch zu Recht fest: "Das ist Freiheitsberaubung. Gleichzeitig wird das Empfinden von Freude und Trauer unterdrückt."

Quelle: SPIEGEL online vom 05.04.2017, "Krankenkassenreport: Pflegeheimbewohner erhalten zu oft Psychopharmaka":
http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/aok-report-pflegeheimbewohner-erhalten-zu-oft-psychopharmaka-a-1141965.html

Das Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen hatte für die "Welt am Sonntag" bereits vor 8 Jahren berechnet, dass in Deutschland knapp 240.000 Demenzkranke zu Unrecht mit Psychopharmaka behandelt werden.

"In diesen Fällen werden die Medikamente nicht verschrieben, um die Leiden der Patienten zu mindern oder ihre Krankheiten wirksam zu behandeln, sondern um Personal einzusparen und den Heimbetreibern höhere Gewinne zu bescheren", sagte Professor Gerd Glaeske, der sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt, in einem Bericht der WELT vom 25. März 2012: "Wir haben hier ein flächendeckendes Problem."

Von den bundesweit 1,1 Millionen Demenzpatienten würden knapp 360.000 mit Neuroleptika behandelt. Studien im Auftrag des britischen Department of Health hätten ergeben, dass in zwei von drei Fällen die Psychopharmaka zu Unrecht verordnet wurden und sich hätten vermeiden lassen. Die Zahlen ließen sich problemlos auf Deutschland übertragen.

Psychopharmaka rechnen sich gleich doppelt: Die Pflegeeinrichtungen sparen so einerseits Personal, zum anderen lassen sich die jetzt tatsächlich hilflosen Patienten in höhere Pflegestufen einordnen, und dafür können die Heime mehr Geld aus der Pflegekasse verlangen.

Quelle: 3sat Bericht vom 11.06.2012, "Einfach ruhiggestellt: Demenzkranke bekommen zu oft Psychopharmaka" (nicht mehr in der Mediathek geführt) 

Der Abbau von Psychopharmaka im Organismus eines älteren Menschen ist stark eingeschränkt, da die Ausscheidung verzögert ist. Rezeptordichte und Dopamingehalt im Gehirn nehmen im Alter ab, deshalb sind ältere Menschen speziell von neuroleptikabedingten Muskel- und Bewegungsstörungen besonders stark betroffen.

Es ist medizinisch nachgewiesen, dass neuroleptikabehandelte alte Menschen unter der psychopharmakologischen Wirkung überdurchschnittlich oft sich verbrühen, gegen Möbel prallen, umfallen, aus dem Bett fallen, beim Gang zur Toilette stürzen, sich Schürfwunden, Blutungen und Brüche zuziehen, insbesondere Oberschenkelhalsbrüche.

Es ist überfällig, dass Politik und Gesundheitswesen unsere Senioren endlich vor chemischer Fesselung und Zerstörung im Alter schützen. Die Verabreichung schwerer Psychopharmaka ist eine schwere Misshandlung pflegebedürftiger Menschen.

Im Sommer 2014 suchte eine Initiative des Amtsgerichts München nach Alternativen zur Verabreichung von Psychopharmaka in der Pflege und brachte dazu alle beteiligten Institutionen an einen Tisch, nachdem der Qualitätsbericht 2011/2012 der Münchner Heimaufsicht ergeben hatte, dass über 51% der Pflegeheimbewohner mit Neuroleptika ruhiggestellt werden.

Quelle: Abendzeitung München online vom 28.06.2014, "Weniger Psycho-Pillen in der Altenpflege":
https://www.abendzeitung-muenchen.de/muenchen/weniger-psycho-pillen-in-der-altenpflege-art-242487

Die Verabreichung von Neuroleptika zur Ruhigstellung von Heimbewohnern in der Altenpflege ist ein bundesweites Problem. Bundesweite gesetzliche Regelungen sind deshalb dringend erforderlich, um diesem Missbrauch endlich ein Ende zu setzen.

Pflegebedürftige Menschen an ihrem Lebensabend zu einem anderen Zweck als zur Heilung oder Gesundheit schwersten und aggressiven, nervenlähmenden Mitteln aus der Psychiatrie (Neuroleptika) auszusetzen und damit das Risiko von Stürzen, Knochenbrüchen oder Verwirrtheit und Halluzinationen in Kauf zu nehmen, verletzt die Würde, jeden Anstand und nicht zuletzt den ärztlichen Ethos. Mit dem Argument der "fachlichen Pflege" ist dies nicht zu rechtfertigen, sondern stellt einen Straftatbestand der Körperverletzung dar und eine Verletzung der Grundrechte gemäß Artikel 1, 2 und 20 Grundgesetz sowie einen Verstoß gegen die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung.

Wir bitten Sie deshalb, sich für die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses einzusetzen. Angesichts der untragbaren Verletzungen, die nachweislich durch Psychopharmaka und Neuroleptika an alten Menschen  seit Jahrzehnten verübt werden, sollte ein grundsätzliches Verbot der Verschreibung & Verabreichung von Psychopharmaka an Bewohner von Pflegeheimen in Erwägung gezogen werden, um die körperliche Unversehrtheit der Senioren zu schützen!

Der Schutz der Älteren steht momentan bundesweit durch „Lockdowns“ im Mittelpunkt. Dank Ihrer Position in der Gesundheits-, Familien- bzw. Sozialpolitik haben Sie vielfältige Möglichkeiten, ein deutliches Zeichen zum Schutz unserer hilfs- und pflegebedürftigen Eltern und Großeltern zu setzen.

Für weitere Informationen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Bernd Trepping

Kommission für Verstöße der Psychiatrie
gegen Menschenrechte Deutschland e.V.
Beichstraße 12
Seiteneingang rechts
80802 München

Tel.: 089 - 273 03 54
info@kvpm.de, www.kvpm.de

Vereinssitz München, VR 8166 Amtsgericht München
Die deutsche Kommission wurde 1972 von Mitgliedern
der Scientology Kirche in München gegründet.