Nervenkrankenhaus Haar im Zwielicht

 

München, den 24. Mai 1977

 

Mit scharfer Kritik, in Form eines umfassenden Berichts, reagierte nun die "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V." auf die umstrittenen Behandlungsmethoden, denen sich psychisch Kranke im Nervenkrankenhaus Haar (Landkreis München) ausgesetzt sehen müssen.

 

Mit dem "Bericht zur Situation der Patienten im psychiatrischen Krankenhaus Haar" will die Kommission zuständige Politiker, Behörden und vor allem den Bezirkstag von Oberbayern (Träger der Nervenklinik) auf eklatante Einschränkungen der Menschenrechte der psychisch Kranken hinweisen, die nicht mehr länger tragbar seien.

 

Das "Bezirkskrankenhaus Haar zähle zu den modernsten psychiatrischen Fachkliniken der Bundesrepublik" hieß es wiederholt, wenn es galt öffentliche Kritik von der Nervenklinik abzuwenden. Den Nachweis für diesen bemerkenswerten Anspruch blieben die Haarer Psychiater bisher allerdings schuldig. Dass eher das Gegenteil zutrifft, zeigt jetzt der Kommissionsbericht in aller Deutlichkeit.

 

Anhand von schockierenden Einzelfällen werden Folgen der psychiatrischen "Behandlung" im Nervenkrankenhaus Haar ausführlich beschrieben. So wurde beispielsweise eine Rentnerin erst unter äußerst fragwürdigen Umständen nach Haar eingeliefert und erkannte dann, nachdem sie einige Monate dort war, ihre eigenen Kinder nicht mehr. Als ihr Sohn von der behandelnden Psychiaterin, Frau Dr. Schulz (Ehefrau des Klinikdirektors), Auskunft über die fatale "Therapie" haben wollte, wurde ihm diese verweigert. Er weiß bis heute nicht genau, was seiner Mutter in Haar zugestoßen ist und sagt über die anderen alten Frauen, die auf derselben Station wie seine Mutter untergebracht sind: "Die liegen alle so drin, als wenn sie schon im Sarg liegen würden".

 

In einem anderen im Bericht angeführten Fall wurden der 57jährigen Dorothea K. private Schwierigkeiten zum Verhängnis, weil diese vonseiten der Psychiater als "chronisch paranoide Psychose" gedeutet wurden. Dorothea K. wurde aufgrund einiger psychiatrischer Gutachten, in denen man sie auch als "gemeingefährlich" einstufte, 6 Monate im Nervenkrankenhaus Haar festgehalten. Kurz bevor ihre zweite Verwahrungsfrist ablief, verließ sie heimlich die Klinik; denn sie hatte erfahren, dass sie endgültig in Haar verwahrt werden sollte. Dorothea K. ging zu den Behörden ihrer Heimatstadt und bekam dort ihre "Flucht" legalisiert.

 

Und das sind die massiven Vorwürfe, die sie jetzt an die Adresse der Haarer Psychiater richtet:

  • In der Aufnahmeklinik, Station B 6, durfte ich nicht telefonieren, um meinen Bekannten meinen Aufenthaltsort mitzuteilen.

 

Nicht nach Hause fahren, um

  • die schriftlichen Beweise zu holen, dass meine Angaben stimmen,
  • die aus meinem Briefkasten quellende Post herauszunehmen,
  • mir warme Kleidung und einen Mantel zu holen. Bis Ende November hatte ich nur mein Sommer-Schürzenkleid an,
  • meine Wanderstiefel gegen leichte Schuhe auszuwechseln. Fußknochen und -haut wurden dadurch geschädigt,
  • meine rückständige Miete zu bezahlen.
  • Ich bat Herrn Dr. Staudinger und Herrn Dr. Ohne darum, meine Miete bezahlen zu dürfen und erhielt stets die gleiche Antwort: 'Ja, das wissen wir. Das ist uns bekannt'.
  • Das BKH Haar hatte also damit erreichen wollen, dass ich mein Eigentum und meine Wohnung verlieren sollte. Ohne Wohnung wird man nicht mehr aus dem BKH entlassen, wenn man älter ist.
  • Das BKH Haar wollte meinen Personalausweis haben, meine Bankkonto-Nummer wissen und hatte meine Rente beantragt.
  • Ich war verschollen für alle, die mich kannten. Die Polizei brach deshalb die Tür zu meiner Wohnung auf, da man annahm, dass ich dort umgekommen war.


Außerdem wurde Dorothea K. in der Nervenklinik gedrängt, eine sogenannte "Zustimmungserklärung" zu unterschreiben, d.h., sie hätte mit ihrer Unterschrift bekunden sollen, dass sie mit dieser "Behandlung" einverstanden ist.

 

Derlei Enthüllungen zeigen wahrlich nur die Spitze eines Eisbergs und man kann davon ausgehen, dass es sich bei Dorothea K. um keinen Einzelfall handelt. Denn schon eine beträchtliche Zahl von Hilfesuchenden wandte sich im Lauf des letzten Jahres an die "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V.", die im Hinblick auf solche "Praktiken" die Frage aufwirft, ob "diese Behandlungsmethoden eigentlich mit dem Grundgesetz zu vereinbaren" seien?

 

Eine Analyse der Jahresberichte von 1972 und 1973 macht deutlich, dass in beiden Jahren weit mehr als die Hälfte der Patienten unfreiwillig in das Nervenkrankenhaus Haar eingeliefert wurden. Weitere Zahlen zeigen die psychiatrischen Erfolge. 1972 setzten sich die 3708 Abgänge (Bezeichnung für die entlassenen Patienten) aus 39 Geheilten, 2278 Gebesserten, 348 Verstorbenen und 544 Ungeheilten zusammen. Nicht viel anders war es 1973; 4131 Patienten wurden entlassen: davon 115 geheilt, 2961 gebessert, 365 verstorben und 690 ungeheilt. In beiden Jahresberichten wurden "Krankheiten der Kreislauforgane" als häufigste Todesursache angegeben. Wie zweifelhaft jedoch die "Besserung" in vielen Fällen gewesen sein muss, offenbart ein weiterer Blick in die Jahresberichte. So waren 1972 rund 44% und 1973 an die 41% aller im Nervenkrankenhaus Haar aufgenommenen Patienten zuvor schon einmal oder öfters zur Behandlung in Haar gewesen. Viele entlassene Patienten kamen innerhalb eines Monats oder noch kürzeren Zeitraums wieder in die Nervenklinik zurück. "Hier sollte man nicht von 'Heilung' oder 'Besserung' sprechen - was immer man darunter auch verstehen mag - sondern ganz eindeutig von 'Drehtür-Psychiatrie'", bemerkt dazu ein Kommissionssprecher. Für 1974, 1975 und 1976 sind bis heute keine Jahresberichte erschienen. Obwohl es für andere Krankenhäuser eine Selbstverständlichkeit ist, einen Jahresbericht herauszugeben, findet es der Haarer Direktor, Dr. Christof Schulz, nach eigenem Bekunden "gar nicht so außergewöhnlich", 1973 den letzten Jahresbericht erstellt zu haben. Denn schließlich "sei er ja nicht dazu verpflichtet", meinte Dr. Schulz gegenüber der Kommission bei einer telefonischen Anfrage im Dezember 1976. Auch führte er die Überlastung der Datenverarbeitungsanlage und die Größe des Haarer Krankenhauses an, um zu entschuldigen, dass bislang keine Berichte für die letzten Jahre angefertigt wurden.

 

Nachdem im vorigen Jahr skandalenthüllende Bilder aus der Haarer Kinderstation, die im "Stern" veröffentlicht wurden, zu scharfen öffentlichen Protesten führten, zeigen jetzt Fotos im Kommissionsbericht, dass die Praxis, Patienten durch Fesseln oder "mechanisches Fixieren", wie es im Betriebsjargon heißt, ruhig zu stellen, keineswegs auf die inzwischen aufgelöste Kinderstation beschränkt war. Auf den Bildern sind Patienten ersichtlich, die durch Hand- und Fußriemen an Stahlrohrbetten angegurtet sind. Ebenso kommt das andere Extrem zum Ausdruck, ein Patient, der aus dem Bett gefallen ist und hilflos auf dem Fußboden liegt.

 

Der Bericht schließt mit Aussagen von Patienten-Angehörigen, die sich in klarer Sprache mit den Zuständen im Nervenkrankenhaus Haar auseinandersetzen. Die Frau eines Münchner Professors äußert sich besorgt darüber, dass "die Patienten als Menschen nicht für voll genommen werden". Ein Student entsetzt sich: "Mein Vetter ist ein sehr starker Charakter, aber ich fürchte auch er, der geistig noch völlig rege ist, wird unter solchen Umständen kaputtgehen und abstumpfen. Dabei ist nur ein ruhiger Arbeitsplatz notwendig das zu verhindern, um ihm eine Chance zu geben, ein Mensch zu sein. Das wäre die bestmöglichste Therapie, stattdessen wird er durch Therapie kaputtgemacht" (beide Angehörige beziehen sich auf geschlossene Stationen).

 

Ausdrücklich betont wird von der "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V.", dass mit dem Bericht in keiner Weise die anerkennenswerten Bemühungen des Trägers des Bezirkskrankenhauses - dem Bezirkstag von Oberbayern - abgewertet werden sollen. Die Kommunalpolitiker investierten nämlich in den letzten 20 Jahren bereitwillig Millionengelder (110 bis 120 Millionen DM) in die Nervenklinik. Wenn sich die ins Nervenkrankenhaus Haar geflossenen Steuergelder inzwischen als Fehlinvestition erwiesen, so ist dem Bezirkstag sicherlich kein Vorwurf zu machen. Mussten doch die Politiker bei der Verteilung der öffentlichen Mittel den Vorträgen der Haarer Psychiater, vornehmlich denen von Direktor Dr. Schulz, Glauben schenken.

 

Die Kommission hofft deshalb, mit ihrem Bericht den Politikern eine Hilfe bieten zu können, die letzten Endes zur Folge hat, dass eine effektive ethische Kontrolle über die psychiatrischen Tätigkeiten hergestellt wird.

 

 

 

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Die KVPM wurde 1972 in München von Mitgliedern der Scientology Kirche gegründet und gehört zum weltweit größten Netzwerk zur Aufdeckung von Missbräuchen in der Psychiatrie.